Moralvorstellungen generieren Erwartungen, die den Umgang mit den Mitmenschen prägen. Doch welches Verhalten ist kennzeichnend für einen integren, tugendhaften Menschen? In einer säkularisiert-pluralistischen Gesellschaft gelten Frauen und Männer als sozial kompetent, wenn sie sich durch Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Kollegialität und Vertrauenswürdigkeit auszeichnen. Diese Attribute haben die klassischen und christlich-theologischen Tugenden, etwa Tapferkeit, Keuschheit oder Mäßigung verdrängt.
Die hier versammelten Beiträge fragen nach dem Einfluss expliziter und impliziter Tugendmodelle auf den Menschen, nach ihrer geschlechtlichen Prägung sowie nach den Geltungskonkurrenzen von alten und neuen Idealvorstellungen. Aus der Perspektive des Subjekts betrachtet stellt sich die Frage, ob Tugendhaftigkeit wie ein Korsett – je nachdem, von wem und für wen es geschnürt wurde – stützend, formend, schützend, einengend oder sogar erstickend wirkt.